© Ortsbeirat Engelbach

Wie die Engelbacher dem Landgrafen das

Aarnest schenkten

Eine alte Engelbacher Sage, nacherzählt von Georg Zitzer Heißa, war das ein Leben, wenn Landgraf Ludwig VIII. in seinem Jagdschloß zu Katzenbach bei Biedenkopf einkehrte! Wenn der Herbst kam und der Wald sich zu färben begann, dann litt es ihn nicht länger in seiner Residenz an der Darm, dann zog er mit den Edlen des Hofes in die Nordmarken seiner Herrschaft, gefolgt vom buntscheckigen Troß der Jägermeister, Piqueure, Sattelknechte, Büchsenspanner, Köche, Hundejungen, Lautschläger und Gaukler. Und die sonst so stillen Hinterländer Berge hallten wider vom Gekläff der Meute, vom Hörnerschall und jauchzendem Horrido aus rauen Männerkehlen. Schon am Tage vor der Ankunft der fürstlichen Jagdgesellschaft bewegten sich lange Reihen von Bauernfuhren dem Jagdlager zu, hochbeladen mit Heu und Stroh und Säcken voll Korn und Hafer. Und so mancher stolze Hahn samt seinen braven Hennen mußte Abschied nehmen vom heimischen Mist, um in die Katzenbach zu wandern auf Nimmerwiedersehen. Die Teichwärter von Weifenbach und Biedenkopf schafften Wagenladungen von Hechten, Forellen, Aalen, Karpfen und Krebsen herzu, damit es in der fürstlichen Küche nicht an gebührender Abwechslung fehle. Wer von den Bauern auf der Treiberliste stand, tat gut, sich beizeiten nach dem Wildstecken und der Hasenklapper umzusehen und sich pünktlich bei dem Herrn Oberjägermeister zu melden, der die Mannschaften den von Jägerburschen geführten einzelnen Gruppen zuteilte. Wenn auch vielleicht hier und da einmal ein Familienvater dachte, das Dreschen in der Scheune sei nützlicher und notwendiger wie das Lärmschlagen im Walde, so hütete er sich doch wohl, solchen Gedanken Worte zu leihen, denn in dem Punkte verstanden Serenissimus wenig Spaß. Um so mehr freuten sich die jungen Burschen des ungebundenen Streifens über Berg und Tal, durch Feld und Wiesen, wobei es an lustigen Schelmenstreichen und gegenseitigen Neckereien nicht fehlte. Weniger erbaut waren sie allerdings über die vom fürstlichen Gefolge des Nachmittags veranstalteten Tanzbelustigungen, an denen die jungen Bauerndirnen auf ausdrücklichen Wunsch des Landgrafen teilnehmen mußten. Aber sie wären auch ohnedies freiwillig gekommen. Denn die feinen Herrchen und die schmucken Jägerknechte in ihren kleidsamen Uniformen stachen doch gar zu angenehm von den gewohnten Tänzern ab. Und dazu die herrliche Tanzmusik! So war es auch an einem freundlichen Oktobernachmittag des Jahres 1738. Im geräumigen, viereckigen Gesindehof des Jagdschlosses drehten sich in munterem Reigen die Paare. Auf der Bank vor dem langgestreckten Pferdestall saßen die Fiedler, Pfeifer und Posaunisten, während ein behäbiger Trommelschläger mit unerschütterlichem Gleichmut das ausgelassene Spiel im Takte hielt. Die flinken Jägersleute schwenkten ihre handfesten Tänzerinnen mit manchem Juhschrei im tollen Wirbel, so daß die kurzen Röcke der Hinterländer Schönen nur so flogen. Zum großen Gaudium des zuschauenden Landgrafen. Etwas abseits trug ein absonderlicher, beinahe närrisch gekleideter Lautenschläger allerlei derbe Lieder vor, die nicht verfehlten, die größte Heiterkeit bei den umstehenden Landleuten, zumeist Männern und älteren Frauen, zu erwecken. Scharf spähte der Sänger mit seinen listigen Augen in die Runde, und wo er einen Angriffspunkt für seine boshaften Neckereien entdeckte, da war er mit losen Worten gleich bei der Hand. Die allgemeine Aufmerksamkeit aber wendete sich bald von ihm ab, als jetzt der oberste Jagdherr ein überaus fein geputztes Junkerchen zu sich heranwinkte und ihm mit leiser Stimme einen Befehl gab. Da ging der Angeredete zögernden Schrittes auf ein altes, häßliches Bauernweib zu. Eine zierliche Reverenz machend und ihr den Arm reichend, trat er sodann mit der Alten, auf deren runzeligen Gesicht Vergangenheit und Stolz auf lächerliche Weise um den Vorrang stritten, zum Tanze an. Nach etlichen Runden wollte er, des grausamen Spieles müde, sich mit einer Verbeugung verabschieden. Doch er hatte die Rechnung ohne Ludwig VIII. gemacht. „Halt, junger Herr", rief dieser gut gelaunt aus, „ist er so wenig erfahren in dieses Landes Brauch und Sitte, daß er nicht weiß, was seiner Dame zukommt und gebühret?" Freilich wußte es der Junker — allein, die Alte zu küssen, das schien ihm doch zuviel verlangt. Bestürzt schaute er den Gebieter an. Aber dessen Miene blieb unbewegt. Da beugte sich kurz entschlossen der Listige zu der Bäuerin nieder und drückte einen laut vernehmbaren Kuß auf— seine eigene Hand, die er blitzschnell an die Wange des Weibes gebracht hatte. Lauter Beifall und Händeklatschen ringsum belohnten seinen guten Einfall. Auch der Landgraf war mit dieser glücklichen Lösung augenscheinlich wohl zufrieden. Leutselig mischte er sich unter die Menge und zog bald hier, bald dort einen Bauersmann ins Gespräch, als ihm der hinzutretende Geheime Finanz-Oberkommissar die Meldung brachte, daß der zur Audienz befohlene Schultheiß von Engelbach eingetroffen sei. „Dann wollen wir den Mann nicht länger warten lassen, um uns seine Gunst zu verscherzen", meinte Ludwig und begab sich mit dem treuen Berater und erprobten Freunde nach seinen Gemächern. —Für den fürstlichen Jagdherrn recht unbequem gelegen und ihm manche ärgerliche Stunde bereitend, grenzte an das Katzenbacher Revier ein Teil des Engelbacher Gemeindewaldes, das Aarnest. Von dem mehr als 600 Meter hohen Berge, nach dessen Namen der Distrikt benannt war, eilen nach allen Seiten hin kleine Gewässer zu Tal, besonders beliebte Aufenthaltsorte für das Rotwild. Nach dem Besitze dieses Waldes stand des Landgrafen Sinn, seitdem er zum erstenmal hier gejagt hatte. Um so mehr, als gar mancher feiste Hirsch von hier aus, dem nach Osten ziehenden Bacheslauf folgend, seinen Wechsel nach dem Kurhessischen zu nahm und den dortigen Förstern in die Hände fiel. Die Sache verdroß ihn auch deswegen nicht schlecht, weil er mit seinen Kasseler Vettern wegen der Erbstreitigkeiten um das Amt Babenhausen auf gespanntem Fuße lebte. Dazu besaßen die Engelbacher den Wald nicht einmal mit Recht, denn wie der Geheime Rat Schulz aus den Akten festgestellt hatte, waren sie vor ungefähr 200 Jahren von den Herren von Ders zu Fronhausen mit dem Aarneste an Stelle des ausgegangenen Albertshausen gelehnt worden, ohne daß sich die Stifter um die Genehmigung der Landeshoheit glaubten bekümmern zu müssen. Schon öfters hatte Landgraf Ludwig den Engelbachern Kaufangebote gemacht, aber diese hielten hartnäckig an ihrem Aarnest fest. Heute war ihr Schultheiß, Henche Aßmann, zur nochmaligen Verhandlung eingeladen worden und stand im feierlichen weißen Leinwandkittel, in kurzen, strammsitzenden Lederhosen und den Sonntagsschuhen mit den blanken Messingschnallen vor seinem Landesherrn. „Nun, Herr Schultheiß", begann der Landgraf die Unterredung, „wie steht‘s mit unserem alten Handel?" — „Halten zu Gnaden, Hochfürstlicher Herr", antwortete, verlegen die Mütze in den Händen drehend, der Dorfgewaltige, „insonderheit, was mich betrifft, so möchte ich gerne zu Hochdero Diensten sein, aber was da der Heinz Schmeckpfeffer ist und der Peter Gilbert wie denn auch der Gemeindsmann Wigel so . . .„ — „Also weigert ihr mir das Aarnest nach wie vor?" unterbrach ihn der Landgraf. „Insonderheit ja, so ist es, Hochfürstlicher Herr", bestätigte Aßmann froh, einer weiteren Erklärung überhoben zu sein. Auf diesen Bescheid hin zog Ludwig die Stirne nachdenklich in Falten, doch blieb er ruhig und gemessen. Nachdem er sich eine Weile im Nebenzimmer mit Schulz beraten hatte, trat er wieder herein und sagte: „Ihr könnt gehen, Schultheiß, und vergeßt nicht, Euren Querköpfen zu Haus einen Gruß zu bestellen, daß ich die Hoffnung nicht aufgebe, das Aarnest doch noch einmal mein Eigentum nennen zu können!" Henche Aßmann empfahl sich mit vielen Bücklingen. Als er draußen war, machte der Landgraf seinem innerlichen Grimm in bitteren Worten Luft. „Wieviel hatten wir den Kerlen doch geboten, Schulz?" — „Hundertundzwanzig Goldgulden nebst Befreiung von Hand- und Spanndiensten auf zehn Jahre", gab der Oberkommissar Auskunft. „Und das schlagen sie aus? Unverschämt, sehr unverschämt in der Tat!" Schulz hatte über den Fall seine eigenen Gedanken. Im Herzen freute er sich, daß aus dem Kauf nichts geworden war. Die fürstliche Kasse war ohnehin schon lange an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Wenn die Landstände nicht bald wieder einmal helfend einsprangen, dann mußte man sich mit dem Gedanken vertraut machen, die kaiserliche Exekutionskommission in den Darmstädter Landen ihres Amtes zu sehen. Der erboste Landgraf aber riß das Fenster auf und befahl dem im Hof auf und ab gehenden Lakaien, alles, was nicht zum Gefolge gehöre, auf der Stelle hinauszujagen. Darauf brach die Musik ab, und die Landleute schlichen erschrocken, von den wenig schmeichelhaften Redensarten des Hofgesindes begleitet, über die Berge ihren Dörfern zu. Eine beängstigende Stille lagerte über Katzenbach. Es hatte sich schnell herumgesprochen: Ihre Hochfürstliche Gnaden waren nunmehr sehr übler Laune. Der Winter kam und breitete über das Hinterland eine weiche, unendlich lange und breite Schneedecke. Auch die Grenzsteine in Nord, Ost und West deckte er gründlich zu, als ob er sagen wollte: „Das ist ja nur eitel Menschenwerk. Was scherts mich, ob ihr darm- städtisch, kasselisch oder nassauisch seid, für mich sei ihr nur ein lächerlich winziges Fleckchen auf dem großen Erdenball." Das jäh unterbrochene Katzenbacher Fest war längst vergessen, nur in Engelbach bildete es noch immer den Gegenstand eifrigster Unterhaltung. Die Leute fühlten sich offenbar unbehaglich unter der Ungnade des Landgrafen, die wie ein dumpfer Druck auf allen Gemütern lastete. Es hatten sich zwei Parteien im Dorf gebildet, die sich gegenseitig eifrig befehdeten. Die eine war für, die andere gegen den Verkauf des Aarnestes. An der Spitze der letzteren stand der Schultheiß mit einem Teil des Gemeindevorstandes nebst den älteren Einwohnern, während die fortschrittlich gesinnte jüngere Generation den Standpunkt vertrat, daß es töricht sei, das Anerbieten des Landgrafen abzuschlagen. Die Reibereien zogen sich monatelang hin. Henche Aßmann, vor dem sich seither jedermann geduckt hatte, dem niemand zu widersprechen wagte, mußte sich von dem in einer dunklen Nacht aus den Spinnstuben heimströmenden jungen Volk eine regelrechte Katzenmusik gefallen lassen. Da wurde ihm klar, daß seine Position bedenklich erschüttert sei und er sann eifrig darüber nach wie er den Frieden im Dorfe wiederherstellen, den Gegensatz zwischen Fürst und Untertanen vermitteln und beide Teile zufriedenstellen könne. Bald bot ihm ein günstiger Zufall die Hand zur Ausführung dieses löblichen Vorhabens. Als die Zeit gekommen war, hatte die Frühlingssonne dem Schnee den Buckel so warm gemacht, daß er es vorzog, sich in eine schmutzig-gelbe Brühe aufzulösen und nach den Tälern hin zu verschwinden. Die Grenzsteine kamen wieder zum Vorschein und mit ihnen allenthalben das zarte, junge Grün. (Fortsetzung folgt) Wie das Jost Mankel, der Schäfer von Engelbach, inneward, setzte er sogleich den Termin zum Frühjahrsausmarsch seiner Herde fest. Zum ersten Standquartier erkor er sich eine Lichtung am Fuße des Aarnestes, die vor ungünstigen Witterungseinflüssen ziemlich geschützt war. Zufriedenen Gemütes rauchte er den garnumwickelten irdenen Stummel und betrachtete mit Wohlgefallen seine stattliche Schar. Und wenn die scharfe Hessenluft über den Burgwald her zeitweise noch nasse Schauer mitbrachte, dann kroch er wohlbehaglich in seine Hütte, deren Dach, eine Arbeit des weit und breit berühmten Strohdeckers Hannchrist Schneider von Eisenhausen, auch dem schlimmsten Regengusse Trotz bot. Das ging so fort, einen Tag um den anderen, da trat Anfang des Monats April ein Ereignis ein, das ihn samt allen Engelbachern in die größte Aufregung und Besorgnis stürzte. Mankels Weib, die Annelies, hatte wieder einmal das Reißen in allen Gliedern, mußte das Bett hüten und konnte daher ihrem Alten den Suppentopf nicht hinaustragen. So war er denn gezwungen, seine Herde auf einige Stunden zu verlassen, um sich das Mittagsmahl selbst zu besorgen und daneben die notwendigsten Arbeiten in Haus und Stall zu erledigen. Er hatte das schon öfters getan und auch seinen Melas mitgenommen, denn der Hund wollte doch auch etwas Warmes in den Leib haben. Als er nun wieder zur Herde zurückkehrte, fiel ihm sogleich eine seltsame Unruhe unter den sonst so geduldigen Tieren auf, und von einer schlimmen Ahnung beschlichen, stellte er zu seinem nicht gelinden Schrecken nach einem prüfenden Blick fest, daß die Häupter seiner Lieben sich um eines verringert hatten. Wiederholt zählte er und immer mit dem gleichen betrüblichen Ergebnis. Ein Lamm war und blieb verschwunden. Sollte ihm etwa der Nachbarhirte einen Streich gespielt haben? Oder hatte einer der Wanderschäfer, die im Frühjahr lahnaufwärts zogen, das Tier als gute Beute angesehen? Forschend bückte er sich zur Erde nieder und durchsuchte die Umgebung nach etwaigen Fußspuren des Räubers. Nichts zu entdecken. Auch den Wald suchte er ab, doch umsonst. Nun machte er sich bittere Selbstvorwürfe, daß er den Melas nicht zur Bewachung dagelassen hatte. Der würde es dem Gauner schon gezeigt haben! Als ob der Hund die Gedanken seines Herrn erraten hätte, ließ er ein zorniges Knurren hören. In dieser Nacht tat der Schäfer von Engelbach kein Auge zu, denn am nächsten Morgen sollte er einen Gang tun, es galt, dem Schult-heißen Meldung von dem Vorgefallenen zu machen. Wie er den Henche Aßmann kannte, würde ein entsetzliches Donnerwetter über sein Haupt hereinbrechen. Dazu war die Aussicht auf ein neues Hirtenhäuschen durch das Unglück auch wohl wieder in bedenkliche Ferne gerückt. Durfte er denn als ein pfichtvergessener Hirte noch auf die Belohnung rechnen? Seine Befürchtungen waren nicht übertrieben gewesen. Der erzürn • te Schultheiß verurteilte ihn nicht nur zum Ersatz des verlorenen Schafes, sondern hielt ihm obendrein lange Rede über die Eigenschaften eines treuen Hirten und kündigte ihm im Wiederholungsfalle die Amtsentsetzung an. Ohne von seiner Annelies Abschied zu nehmen, eilte der also Gemaßregelte wieder aufs Feld hinaus. Doch, was war das? Melas sprang ihm nicht freudig bellend entgegen? Einen gellenden Pfiff sandte er nach seinem Hund aus. Aber der Hund ließ sich nicht blicken. Den armen Schäfer überlief es heiß und kalt. Schlimmes ahnend, irrten seine Augen über die Herde. Und dann hätte er vor Schreck in den Erdboden versinken mögen, denn das Unerhörte war zum zweitenmal Ereignis geworden. Diesmal fehlte des Schultheißen schwarz gefleckter Jährling! War das eine Aufregung und ein Entsetzen, als die Geschichte im Dorfe ruchbar wurde. Henche Aßmann befahl sofort sämtliche Männer zu einem Streifzug in die Wälder, um den Dieb, über dessen Person die verschiedensten Mutmaßungen ausgetauscht wurden, vielleicht noch zu erjagen. Schließlich einigte man sich dahin, daß hier Zigeuner ihre Hand im Spiel hatten, verstanden sie doch die Kunst, auch den schlimmsten Hund sich durch Zauberei gefügig zu machen. Der Schultheiß teilte sein mit Knüppeln, Sensen und Dreschflegeln bewaffnetes Heer in drei Haufen. Der erste soll nach Hassenroth zu marschieren, der zweite die Schlupfwinkel an der Grenze absuchen, während der dritte unter seiner persönlichen Führung die Verfolgung im Aarnest aufnahm. Auch Jost Mankel schloß sich an „denn", sagte er sich, „die Lämmer sind fort, der Melas ist fort, und wenn ich den nicht wiederkriege, mag der Teufel die ganze Herde holen". Da ließen ihn seine Brotherren mitziehen, zumal die Annelies, die der Schreck wieder auf die Beine gebracht hatte, sich erbot, unterdessen ihres Mannes Stelle zu vertreten. Je zwei Mann hielten sich bei der Streife zusammen, denn es war ihnen allen nicht geheuer, mann konnte nicht wissen, was da für böse Geister die Hand im Spiel hatten. Einer sprach dem anderen Mut zu und stieß dabei erschreckliche Drohungen gegen den verworfenen Lämmerräuber aus. Hängen und Vierteilen war das mindeste, von Knochen kurz und klein schlagen ganz zu schweigen. Schäfer Mankel, von der Sehnsucht nach Melas und einem glühenden Rachedurst getrieben, eilte allein weit voraus. Dicht hinter ihm folgten der Schultheiß und der Schmeckpfeffer. Schon war man bis zur Hälfte des Gipfels vorgedrungen, als der Hirte plötzlich stille stand. Gespannt horchte er, die Hand an das rechte Ohr legend, in die Ferne. Erwartungsvoll hemmten auch die Nachfolgenden den Schritt. Jetzt erkannte er deutlich die Stimme seines Hundes. Und den Schippenstiel fester umfassend, durchbrach er in langen Sätzen das Gebüsch. „Melas, wo bist du?" Ein heiseres Knurren war die Antwort. Im nächsten Augenblick hatte er, mit Ungestüm vordringend, eine kleine Waldblöße vor sich, wo sich ihm ein seltsamer Anblick bot. Mit über und über blutiger Schnauze und zerrissenen Ohrlappen stand Melas auf einem riesigen Vogel, der die verzweifelten Anstrengungen machte, den tapferen Hund abzuschütteln. Auch der Unterlegene blutete aus mehreren Wunden. Ein Flügel hing ihm kraftlos zu Boden, während der andere, der gut zwei Ellen in der Länge maß, sausend die Luft durchschnitt. Aber Melas‘ starke Zähne hielten den Hals des Feindes wie in einer eisernen Klammer, den Hieben der messerscharfen Fänge wußte er sich durch Seitensprünge geschickt zu entziehen. Nicht weit davon lag mit zerhacktem Kopf ein totes Lamm. „Ihr Leute, hierher!" schrie Mankel, und von allen Seiten kamen die Mannschaften heran. Mutig warfen sie sich auf das Untier und machten es durch Fesselungen wehrlos. Jost Mankel hatte große Mühe, seinen Hund zurückzuhalten, der sich immer wieder auf seinen Widersacher stürzen wollte, um ihm den Garaus zu geben. Schon gedachte die Heldenschar im Triumph den Heimmarsch anzutreten, als ein zweiter Trupp mit einer neuen Wundermär erschien. Am Südhange des Berges hatte man auf einer uralten, hohen Eiche ein ungeheures Nest entdeckt, dessen Unterlage aus armdicken Knüppeln bestand. Umherliegende Knochen und mancherlei Tier-reste zeigten den Weg zum Horst, der, von unten gesehen, einem kleinen Holzstoß zu vergleichen war. Es bestand kein Zweifel mehr. Der gefährliche Räuber hatte sich das Aarnest zum Aufenthaltsort gewählt, um die Engelbacher ihrer stattlichen Schafherde zu berauben. Ein Glück, daß Mankels Melas ihm beizeiten das Handwerk gelegt! Dann ging es im Triumph zum Dorfe zurück. Bis zum Eintreffen des Amtmanns aus Biedenkopf, den der Schult-heiß durch Eilboten pflichtschuldig von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt hatte, wurde der Gefangene vorläufig im Gemeindebackhaus in strengem Gewahrsam gehalten. Ganz Engelbach hatte sich versammelt, und wer nicht mit gewesen war, der forschte eifrig bei den Augenzeugen nach aufregenden Einzelheiten. Uber Art und Name des Riesenvogels entspannen sich bittere Wortge fechte. Einige meinten, es sei ein Geier, andere hielten ihn für einen Falken, ein altes Mütterchen aber erklärte ihn rundweg für den leibhaftigen Höllendrachen. Melas, der das Hauptverdienst des Tages für sich in Anspruch nahm, lag schwerfällig auf dem Stroh in seiner Hütte. Nicht seiner ehrenvoll erworbenen Wunden wegen, die waren für ihn, den grimmigen Verfolger jeglichen Raubzeuges, nichts Neues, aber er hatte sich an den vielen guten Bissen, die ihm zur Belohnung seiner Heldentat allseits gereicht wurden, gründlich den Magen überladen, was man ihm gar nicht so sehr verübeln konnte, da im Hirtenhause für gewöhnlich Schmalhans Küchenmeister war. Noch stritt man hitzig hin und her, als nahendes Pferdegetrampel die Menge aufblicken ließ. Hoch zu Roß erschien der Amtmann Ambrosius Stumpfius und Gerichtsschreiber Trutwin aus Biedenkopf, letzterer einen umfangreichen Schweinslederband unter dem Arme tragend. Sofort machten alle ehrerbietig Platz. Die Männer und Burschen rissen die Mützen herunter, die Weibsleute beugten sich mit tiefem Knicks. Ein erwartungsvolles Schweigen trat ein. Nur Henche Aß-mann sprang eilfertig herzu und half dem Amtmann vom Gaul. Darauf räusperte er sich, holte tief Atem, um speziellen Bericht zu erstatten. „Hochmögender Herr Amtmann", begann er, „insonderheit. . .„ Stumpfius winkte ab. „Man bringe den Delinquenten zur Stelle!" Drei, vier, fünf, ein Dutzend Leute beeilten sich, dem Befehl Folge zu leisten und schleppten den Lämmermörder, der sich inzwischen von den vielen Püffen etwas erholt hatte und tückische Blitze aus den Augen sprühte, in den Kreis. Der Amtmann schob seine grüne Schirmmütze weit zurück, zog ein unförmiges Futteral hervor und entnahm ihm die altväterliche, plumpe Hornbrille. Wiederum versenkte er seine Hand in die unergründliche Tasche des kaffeebraunen Uberrockes und brachte ein seidenes Tüchlein zum Vorschein, worauf er die Brille umständlich zu putzen anhub, bevor er sie mit bedächtiger Vorsicht auf seine Nase setzte. Gleichsam, um diesen Gesichtsteil für die ihm zugemutete Last zu entschädigen, griff er jetzt mit unverminderter Bedächtigkeit nach der silbernen Schnupftabaksdose und nahm eine kräftig bemessene Prise. Während all dieser Vorbereitungen hätte man ein Blatt können zur Erde fallen hören. „He, Schultheiß", wandte sich der Hochmögende nun an Henche Aßmann, „kann er mir sagen, was für ein Tier das sei?" — „Halten zu Gnaden, Herr Amtmann, ein Geier." — „Und du?" erkundigte er sich bei dem Burschen, der seinen Braunen am Zügel hielt. „Auch ein Geier", war die Antwort. Er fragte einen Zweiten und Dritten. Mit demselben Erfolg. Ein halbwüchsiger Junge trat keck hervor und hob den Finger. „Nun?" — „E Raabvuul!" Da hätten nun alle gerne gelacht, aber des Amtmanns strenge Miene blieb unverändert. „So laßt denn sehen", sprach er jetzt, „was hier der hochgelehrte Conradus Geßner in seinem fürtrefflichen Werke „Icones avium omnium" von eurem Vogel zu sagen weiß. Schlaget auf das Kapitel der Aquilinae, Herr Sekretarius, und reichet mir sodann das Buch!" Abwechselnd einen Blick auf den Vogel und in. seinen „Geßner" werfend, fing er zu vergleichen an. Hierauf wandte er sich wieder an die versammelte Gemeinde. „Ist er nicht braun gefärbt auf Brust und Rücken? Hat er nicht einen weißen Fleck auf seinem Halse? Gleicht des Tieres Schnabel nicht einem krummen Messer?" Und so fort. Jedesmal antwortete der Chorus in maßlosem Erstaunen über das allwissende Buch mit einem erfreuten „Jawohl, Herr Amtmann". —„Und endlich", fuhr dieser fort, „heißt er nicht das ‚Aarnest‘, der Berg, allwo ihr dieses seltene Exemplar erbeutet? Nun wisset, ihr Leute, vor zweihundert und mehr Jahren schon einmal nistete sein Geschlecht dort oben und gab dem Walde seinen Namen. Ein Aar ist es, den ihr bezwungen habt." Da ging der Schäfers Annelies ein Licht auf. Daß sie auch nicht längst von selbst darauf gekommen war! Hatte sie doch von ihrer seligen Großmutter die Geschichte vom Aarnest wer weiß wie oft erzählt bekommen. Erfreut, des Amtmanns Aussage mit ihrer Weisheit bestätigen zu können, drängte sie sich lebhaft vor. Doch ehe sie ein Wort hervorbringen konnte, wies der Gestrenge ihren Vorwitz nachdrücklichst in seine Schranken zurück: „Mulier tacet in ecclesia, Weib, halte sie ihren Mund, bis sie gefragt wird!" — Die Annelies verschwand. Hierauf klappte der hochmögende Herr Ambrosius Stumpfius sein Buch zu, bestieg den Klepper und trabte mit seinem Schreiber ohne Gruß davon. Als die Reiter hinter den letzten Hütten verschwunden waren, ging der Jubel los. Also einen Aar hatte man gefangen, den König aller Vögel, und das ausgerechnet in Engelbach! Ein erhebendes Gefühl schwellte eines jeden Ortsbürgers Brust. In diesem feierlichen Augenblick hätte man in Engelbach selbst mit dem sonst soviel bewunderten Biedenkopf nicht getauscht. Aber eine Hauptfrage war durch den unvermuteten Aufbruch des Amtmannes offengeblieben. Was sollte man mit dem Aar nun weiter anfangen? Soviele Köpfe, soviel Meinungen. Endlich einigte man sich dahin, die Regelung dieser Angelegenheit vertrauensvoll den Vätern des Dorfes und ihrer Weisheit zu überlassen. Der Schultheiß berief zu diesem Zweck eine sofortige geheime Ratssitzung. Ehe die Männer sich jedoch an die Erledigung des Haupt-punktes ihrer Beratung machten, verwilligten sie für die Teilnehmer des Streifzuges einen ausgiebigen Freitrunk auf Gemeindeunkosten. Ein Beschluß, der bei allen ungeteilte Zustimmung fand. Dann zog sich der Ausschuß zur weiteren Verhandlung ins Gemeindezimmer zurück. Als erfahrener Debatteleiter ließ Henche Aßmann die übrigen Mitglieder zuerst ihre Meinung vortragen, ehe er das Wort ergriff, denn mit Blitzesschnelle war ihm ein Gedanke durch den Kopf gefahren, dessen Kühnheit wahrhaft überwältigend auf seine Mitbürger wirken mußte, ein Plan, dessen Ausführung ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte Engelbachs zu sichern geeignet war für alle Zeiten. Schäfer Mankel, den man sonst um keinen Preis im Kollegium geduldet hätte, war ebenfalls anwesend. Als Besitzer des tapferen Melas hatte er ein Recht dazu. Er beantragte dann auch als erster Redner, den Raubvogel eines grausamen Todes sterben und zur Warnung für seinesgleichen im „Aarnest" aufhängen zu lassen. Ihm schloß sich Heinz Schmeckpfeffer in der Hauptsache an, nur wollte er den Missetäter nach gutem alten Brauch an ein Scheunentor an-genagelt wissen. Seine Ausführungen wurden beifällig aufgenommen, allein als man die praktische Ausführung diskutierte, nahm jeder die noch nie dagewesene Zierde für seine eigene Hofraite in Anspruch. (Fortsetzung folgt) Gerade noch rechtzeitig genug, um den stark gefährdeten Frieden zu erhalten, trat jetzt der Gemeindsmann Wigel mit einem neuen Vorschlag auf den Plan. „Ihr lieben Männer", sagte er, „muß das Tier denn unbedingt sterben? Wir können es für seine schlimmen Taten doch nicht verantwortlich machen gleich einem vernünftigen Menschen. Der Aar wird schon aus Not zum Räuber und Dieb geworden sein. Darum stelle ich den Antrag, daß er von der Gemeinde aus gepflegt wird und gefüttert, bis wir einen guten Käufer für ihn finden, denn er ist eine seltene Ware!" Allein seine Rede weckte starken und einmütigen Widerspruch. Der Schäfer Mankel richtete sogleich die höhnische Frage an den Sprecher, ob man denn bei seinen, nämlich Wigels Schafen, mit der Fütterung anfangen dürfe, denn, wie man erfahren habe, sei das Ungetüm mit Kraut und Rüben nicht zufrieden. Damit hatte Mankel die Lacher auf seiner Seite und Wigel war mit seinem Vorschlag glänzend durchgefallen. Doch möchte er sich damit trösten, durch sein Eingreifen die Einigkeit im Plenum wiederhergestellt zu haben. Nun erhob sich Henche Aßmann, der Schultheiß, in seiner ganzen Größe. „Liebe Freunde", hub er an, „was ihr da insonderheit vorgebracht, will ich nicht verwerfen, indessen höret auch meine Meinung, und wenn ihr dann nicht saget: ‚Unser Schultheiß hat wiederum das Rechte ersonnen‘, so will ich mein Amt nicht eine Stunde länger mehr führen. Insonderheit, ihr wisset, wie unser Hochfürstlicher und gnädiger Herr, der Landesgraf, uns übel gewogen ist wegen des ‚Aarnestes‘, unseres Gemeindewaldes. Es ist euch auch nicht unbekannt, daß er ein Freund ist von allerlei seltenem Tier und Gevögel. So frage ich jetzt: Kann sich all das tote Geierzeug, das er ausgestopft auf Tisch und Schränken in Katzenbach stehen hat, mit unserem Aar vergleichen? Nein, sage ich. Darum wollen wir ihm den Gefangenen zum Geschenke machen in seiner Residenz zu Darmstadt, vielleicht, daß sich sein Grimm gegen uns in Wohlwollen und Gnade wandle!" Das schlug ein. Begeistert sprangen die Männer von ihren Sitzen auf und drückten ihrem Schultheiß die Hand. Das war ihnen allen aus dem Herzen geredet, sie empfanden es schon lange schmerzlich, daß die Sonne der landesherrlichen Gnade für Engelbach untergegangen war. Schäfer Mankel erklomm den Tisch, schwenkte den verwitterten Hut und schrie, daß man‘s gassenweit hören konnte: „Unser gnädigster Landgraf soll leben und unser Schultheiß daneben! Hoch, hoch, hoch!" Dröhnend stimmte die Runde der Gemeindevertreter ein. Nur der Schöffe Peter Hahn meldete sich noch einmal zum Wort. Ob man die günstige Gelegenheit nicht benutzen wolle, bei dem Landgrafen um Versetzung eines herrschaftlichen Beamten nach Engelbach vorstellig zu werden, da hierdurch der Ruhm des Dorfes in der Nachbarschaft noch bedeutend vermehrt werden könne. Denn er hatte ein funkelneues Haus am Dexbacher Weg leerstehen und hoffte auf diese Weise in den Ruf eines eifrigen Förderers der Gemeindeinteressen und, was ihm die Hauptsache war, zu einem prompt und reichlich zahlenden Mietsmann zu kommen. Aber die Ratsleute, die seinen Plan durchschauten, erklärten diese Angelegenheit gegenüber der wichtigen Tagesfrage für nebensächlich und wiesen den Antrag einstimmig zurück. Mit zornesrotem Kopf verließ der Schöffe Hahn die Sitzung. Dagegen fühlte sich Henche Aßmann auf der Höhe der Situation. Desgleichen Schäfer Mankel. Der Neubau des Hirtenhauses, wußte er, war gesichert. Und als man sich in später Stunde trennte, war es beschlossene Sache, daß der Schultheiß nebst Schmeckpfeffer und Mankel am nächsten Tage die Reise nach Darmstadt antreten würden. Mit dunklem Schleier hatte sich die Frühlingsnacht über den ereignisreichen Tag gesenkt. Einsam lagen die Straßen des Dorfes, nur aus der Gegend, wo sich das junge Volk noch immer beim Frei-trunk vergnügte, schallten verworrenes Gejohle und Gekreisch. Ab und zu trug der Wind Bruchstücke eines Schelmenliedes zu den Heimkehrenden herüber. „Es fuhr ein Bauer ins Hi-Ha-Heu, es fuhr ein Bauer ins Heu." Der nächste Vormittag verstrich unter mannigfachen Zurüstungen. Die Schuhe wurden gehörig eingeschmiert, und wo‘s nötig war, mit neuen Nägeln versehen, die Quersäcke mit Brot und Räucherspeck verproviantiert, die Feiertagskittel mit den gestickten Schulterstükken aus der Lade hervorgeholt und die silberumbordeten Mützen mit Schwanzfedern des Aars geschmückt. So schieden die drei Männer nach vielen Ermahnungen an Frau und Kind, nachdem der Schultheiß seinen Stellvertreter über das Verhalten im Falle von Feuers- oder anderen Nöten genau belehrt hatte. Der Aar steckte gebunden in einem alten Sack, der abwechselnd von den Abgesandten getragen wurde. Auf Befehl des Schultheißen hatte die Annelies dem Vogel vorher noch einen Imbiß zubereiten müssen und ihm die Mahlzeit vertrauensvoll vorgehalten. Aber der oberste aller Vögel verstand die Sache falsch und riß seiner Wohltäterin in schnödem Undank einen tüchtigen Hautfetzen von der Hand weg. Das war dem resoluten Weibe denn doch zu stark, darum verbläute sie den Undankbaren zum Abschied erst noch einmal weidlich mit dem Stallbesen. Melas war sehr enttäuscht, daß er nicht mit durfte und drückte seinen Schmerz durch jämmerliches Heulen aus. Bis an die Gemarkungsgrenze gab fast das ganze Dorf den Dreien das Geleite, und die Schuljugend kehrte sogar erst in Eckelshausen um. Unter eifrigen Gesprächen, die den Weg angenehm verkürzten und vorzugsweise das Verhalten bei Hofe zum Ausgangspunkte hatten, gelangte man über Gladenbach nach Königsberg, von wo aus noch der berüchtigte Krofdorfer Wald zu durchschreiten war. Der Gedanke an ihre wichtige Mission ließ keine Bangigkeit bei den Wandersleuten aufkommen. Schon war die Sonne hinter den Baumkronen niedergegangen und man hatte einen Seitenpfad eingeschlagen, als ein verdächtiges Rascheln im dichten Unterholz sie nach einigen Schritten horchend stille stehen ließ. Aber jetzt war nichts mehr zu hören. Doch stets, wenn sie weitergingen, wiederholte sich das Geräusch. „Ihr Männer", flüsterte der Schultheiß, „es ist klar, wir werden verfolgt!" Furcht und Zittern fuhr ihnen allen in die Glieder. Der Schäfer ermannte sich zuerst und rief mit lauter Stimme: „Wer da?" Niemand antwortet ihm. Nun legte er in alter Gewohnheit die Finger an die Zähne und ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen. Und wer darauf wie ein Pfeil durchs Gebüsch geschossen kam, war kein anderer als — Melas. Fast hätte er seinen Herrn vor Freude umgeworfen. „Ei du verfluchter Meckes", begrüßte ihn Mankel, der nicht wußte, ob er das treue Tier loben oder schelten sollte, „wie hast du uns erschreckt? Habe ich dich nicht geheißen, daheim zu bleiben, he?" Seinen Begleitern dagegen kam der Hund wie gerufen, weil er ihnen das Bewußtsein einer erhöhten Sicherheit gab. Ohne weiteren Zwischenfall wurde Heuchelheim erreicht, wo man für die Nacht bei einem Berufsgenossen des Schäfers Unterkunft fand. Am folgenden Tag in aller Frühe wurde der Marsch fortgesetzt, über Butzbach, Friedberg und durch die Stadt Frankfurt ins Darm- städtische hinein. Das sich immer mehr verflachende Landschaftsbild gab den Männern Anlaß, Vergleiche mit ihrer Heimat anzustellen, die, wie nicht anders zu erwarten, zugunsten des Hinterlandes ausfielen. „Die Gegend sieht aus", meinte Heinz Schmeckpfeffer, „wie ein Gesicht ohne Nase". Die Reisegenossen fanden diese Bemerkung ausgezeichnet. Kein Wunder, daß der Landgraf jedes Jahr zu ihnen •nach Katzenbach kam! Auf einem Landgut in nächster Nähe der Residenz wurde das zweite Nachtquartier bezogen, da es doch nicht Anstand gewesen wäre, bei dem Landgrafen so spät anzuklopfen. Dazu machte sich die große Müdigkeit bei den Reisenden geltend, zumal sie die Jüngsten auch nicht mehr waren. Der Hofbesitzer, vom Ziel ihrer Fahrt unterrichtet, zeigte sich äußerst zuvorkommend gegen seine Gäste, bewirtete sie freundlich mit Speise und Trank, so daß die Proviantsäcke gar nicht aufgebunden zu werden brauchten, und machte ihnen auf der Tenne eine saubere Streu zurecht. Bald stimmten Schmeckpfeffer und Mankel ein liebliches Schnarchlied an. Der Schultheiß aber konnte nicht so schnell den Schlaf finden, weil ihm seine Ansprache an den Landgrafen, über deren endgültige Fassung er noch nicht recht im klaren war, beständig im Kopfe herumging. Zwar übermannte auch ihn endlich die Müdigkeit, aber ein immer wiederkehrender Traum störte ihn empfindlich im Schlummer. Der Aar hatte ihn nämlich am Kragen gepackt und entführte den sich verzweifelt Sträubenden hoch in die Lüfte. Unten in grausiger Tiefe starrten Hunderte von nadelspitzen Kirchtürmen. Mit Leibeskräften klammerte sich der Arme an den Vögel, aber dieser öffnete die Fänge und ließ die Beute fallen. Minutenlang dauerte der Fall und wollte gar kein Ende nehmen, bis Aßmann angst- und schweißgebadet erwachte. Er war von seinem Strohsack heruntergepurzelt. Schon schien die helle Morgensonne durch die Bodenluke. Ihre Strahlen tanzten zum Scheunentürchen herein um die Gesichter der noch schlafenden Gefährten und verwandelten das Heer der feinen Staubkörnchen — die Pferdeknechte waren am Heurupfen — in ein breites, goldig schimmerndes Band. — Im Hof und Stalle gingen die Mägde auf und ab, die Kühe brüllten und die Schweine grunzten. Darunter mischte sich das Gegacker der Hühner. Aus allen den ihm wohlbekannten Anzeichen schloß der munter gewordene Henche Aßmann, daß es an der Zeit sei, sich wieder auf die Beine zu machen. Mit Mühe und Not rüttelte er seine Kameraden wach. Nachdem die Schlafgäste das Wasser des Laufbrunnens zur innerlichen und äußeren Auffrischung in Anwendung gebracht, nahmen sie unter herzlichen Dankesworten von dem Hofbesitzer Abschied und gelangten noch am selbigen Morgen in die Residenz. In würdiger Haltung zogen sie mit langen Schritten dem landgräflichen Schlosse zu. Doch als sie jetzt an der Wache vorbei über die gewölbte Grabenbrücke gingen und den herrlichen Fürstenbau, von dessen Turme soeben das Amsterdamer Glockenspiel herabtönte, dicht vor sich hatten, da schwand ihre stolze Zuversicht schnell dahin. Zwar hatte jeder der Männer schon mehrmals dem Landgrafen in Katzenbach gegenübergestanden und mit ihm ge sprochen, aber das hier war doch so ganz anders. Unschlüssig blieben sie stehen. Melas hatte unterdessen ein Koppel zottiger Wolfshunde entdeckt und suchte freundschaftliche Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen. Es war ihm etwas Neues, so viele seiner Art versammelt zu sehen, denn daheim in Engelbach war er der einzige Vertreter seines Stammes, da die Hundehaltung durch die Regierung streng verboten und nur in Ausnahmefällen den Wildhütern, Schäfern und Einzel-wohnenden gestattet war. Allein, er fand keine Gegenliebe. Mit bewundernswerter Einmütigkeit fuhr die Rotte auf den Fremdling zu, und ehe sich der Schäferhund dessen versah, lag er auf dem Rücken und die wüsten Gesellen um ihn her. Ein wildes Raufen begann und Jost Mankel wurde bange um das Leben seines Lieblings. Vergessend, wo er sich befand, sprang er mit kernigem Fluch hinzu, um mit seiner Dornkrükke den Frieden wieder herzustellen. Ihm nach rannten der Schult-heiß und Schmeckpfeffer, die sich vergebens bemühten, den Schäfer am Kittel zurückzureißen, doch der Unglücksmensch achtete nicht auf ihre Bitten. Die Torwache besah sich den Spektakel mit vergnügtem Schmunzeln, ohne einzugreifen, denn für diesen Fall hatte sie keine Spezial-instruktion. Wer weiß, was noch daraus geworden wäre, ohne die Dazwischenkunft einiger Hundewärter, die nun mit geübten Händen eingriffen, und die Kämpfenden zu trennen sich bemühten. Es war ein wildes Durcheinander. Da scholl eine scharfe, befehlende Stimme zum Kampfplatz herüber. Wie durch einen Zauberspruch gebannt, entwirrte sich sofort das Hundeknäuel, erschrocken wandten sich die Blicke der Männer dem Balkonfenster zu, wo die Gestalt Ludwigs VIII. erschienen war, der die Szene schon eine Weile beobachtet hatte. „Daß euch der Hirsch stoße, ihr Hinterländer Langkittel", rief er, „reitet euch der Böse, daß ihr hergelaufen kommt, um mir eine Kirmeskeilerei vorzuführen? So ihr Begehren an mich habt, tretet nähher und seid friedlich, vor allen Dingen aber laßt meine braven Hunde in Ruhe!" Darauf ordneten sich die Engelbacher wiederum im Dreiecksverband und stiegen, voran Henche Aßmann, der deen Aarsack auf den Armen trug, die breite Freitreppe mit Gepolter empor ins Staatszimmer des regierenden Herrn. „Guten Morgen, Herr Schultheiß von Engelbach, was steht zu befehlen? Schön, daß ihr mich einmal besucht, Leute", empfing der Landgraf mit gutmütigem Spott das Trio. „Nun, so redet doch und erzählt mir, was ihr auf dem Herzen und im Sacke traget!" Henche Aßmann hatte den Faden seiner so kunstvoll gesponnenen Ansprache verloren. „Hochfürstlicher Herr Landgraf !" bemühte er sich, einen Anfang zu gewinnen, „insonderheit, was unsere, der Gemeinde Engelbach, untertänigste Schafzucht anbetrifft, so wird sie vom Aarnest aus böslich verstöret, und so haben wir ihn mitgebracht. . .„ — „Wer und wo ist er, den ihr mitgebracht habt?" erkundigte sich interessiert der Landgraf. Worauf der Schäfer Mankel entschlossen vor-trat, den groben Sack am unteren Ende faßte und dessen Inhalt mit gewichtigem Plumps auf den Teppich zu Füßen des erstaunten Fürsten schüttelte. Landgraf Ludwig betrachtete erfreut und mit Kennerblicken das seltene Wild und Geheimrat Schulz wurde eiligst herbefohlen, um das Geschenk der Gemeinde Engelbach ebenfalls gebührend zu bewundern, deren Vertreter sich dadurch nicht wenig geschmeichelt fühlten. Ludwig VIII. verstand die große Kunst mit Leuten aus dem Volke umzugehen. So wurden die drei bald warm und gaben mit drastischer Anschaulichkeit ein Bild der Vorgänge, die sich in den letzten Tagen daheim zugetragen. „Ihr müßt ja einen wackeren Hund haben?" klopfte er dem Schäfer auf die Schulter. „Das will ich meinen, Herr Landgraf", antwortete der, „kein zweiter steht im ganzen Amt Biedenkopf." „Also den Aar wollt ihr mir schenken?" fragte der Landgraf nochmals. „Insonderheit ja", beeilte sich der Schultheiß zu versichern. Mankel und Schmeckpfeffer gaben durch zustimmendes Brummen und nachdrückliches Kopfnicken ihre Zustimmung. „Wollt ihr nun das Maß eurer Güte vollmachen" — Ludwig warf seinem Vertrauten einen bedeutsamen Blick zu — „und mir auch noch das ‚Aarnest,‘ dazu schenken, ihr Leute?" Die sahen sich untereinander an. Beinahe hätten sie gelacht. Sollte man im Darmstädter Schloß so arm sein, daß es auf eine Last Brennholz ankam? Oder wollte der Landgraf seinen Scherz mit ihnen treiben? „Na", sagte Henche Aßmann großmütig, „wenn‘s daran gefehlt ist, soll‘s uns auch auf das Aarnest nicht ankommen, insonderheit, ja!" „Ihr habt‘s gehört, Herr Kommissarius, notiert nun und setzet die Urkunde auf mit Brief und Siegel, daß am heutigen Tage die Gemeinde Engelbach mir durch ihre Abgesandten ihren Gemeinde-wald, das Aarnest, zum Geschenke angetragen, daß ich, der Land-graf, solches in Gnaden entgegengenommen!" —Und sich zu den maßlos verblüfften Bauersleuten wendend, fuhr er fort: „Doch soll euch nicht nur der gebotene Kaufpreis immer noch werden, sondern obendrein ein gleichwertiges Stück Wald von meinem Eigentum im Forste Biedenkopf. Und hiermit will ich das letzte Wort in unserem Handel gesprochen haben. Insonderheit, Herr Schultheiß, hat er‘s verstanden?" Ehe der Bestürzte noch etwas äußern konnte, war der Landgraf durch eine Seitentür verschwunden und die Engelbacher Gesellschaft entlassen. Die vom Schultheißen befürchtete Revolution in Engelbach kam nicht zum Ausbruch. Im Gegenteil, jeder verständige Mann war über die Lösung der Aarnestfrage in einer für das Dorf so vorteilhaften Weise erfreut. Als Henche Aßmann das merkte, versäumte er nicht, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie die Engelbacher das alles eigentlich nur ihm allein zu verdanken hätten. So brachte er den Schäferhund Melas schändlicherweise um seinen Ruhm. Einige Wochen nach diesen Geschehnissen waren im Amtshause zu Biedenkopf Ambrosius Stumpfius und ein Sekretär mit der diesseitigen Regelung des Tauschvertrages beschäftigt. Hierbei gestattete sich Trutwin die submisseste Privatbemerkung, daß seiner unmaßgeblichen Ansicht nach, Serennissimus nicht besonders günstig bei dem Handel abgeschnitten hätte. Der Amtmann nahm seinen Untergebenen den reglementswidrigen Seitensprung gegen seine Gewohnheit nicht übel, gönnte er doch selbst den Engelbachern das gute Geschäft nicht, zumal es ohne seine obrigkeitliche Mitwirkung abgeschlossen worden war. Infolge seiner langjährigen Praxis aber gewohnt, seine Aussprüche auf Zeugenaussagen zu stützen, zitierte er sofort den Geist des alten Ovid und skandierte: „Munera, crede mihi, capiunt hominesque deosque, placatur donis Jupiter ipse datis. — Ja, ja kenn‘ sich einer mit den Bauern aus!" Aber diesmal tat er ihnen entschieden unrecht.

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Wie die Engelbacher dem Landgrafen das

Aarnest schenkten

Eine alte Engelbacher Sage, nacherzählt von Georg Zitzer Heißa, war das ein Leben, wenn Landgraf Ludwig VIII. in seinem Jagdschloß zu Katzenbach bei Biedenkopf einkehrte! Wenn der Herbst kam und der Wald sich zu färben begann, dann litt es ihn nicht länger in seiner Residenz an der Darm, dann zog er mit den Edlen des Hofes in die Nordmarken seiner Herrschaft, gefolgt vom buntscheckigen Troß der Jägermeister, Piqueure, Sattelknechte, Büchsenspanner, Köche, Hundejungen, Lautschläger und Gaukler. Und die sonst so stillen Hinterländer Berge hallten wider vom Gekläff der Meute, vom Hörnerschall und jauchzendem Horrido aus rauen Männerkehlen. Schon am Tage vor der Ankunft der fürstlichen Jagdgesellschaft bewegten sich lange Reihen von Bauernfuhren dem Jagdlager zu, hochbeladen mit Heu und Stroh und Säcken voll Korn und Hafer. Und so mancher stolze Hahn samt seinen braven Hennen mußte Abschied nehmen vom heimischen Mist, um in die Katzenbach zu wandern auf Nimmerwiedersehen. Die Teichwärter von Weifenbach und Biedenkopf schafften Wagenladungen von Hechten, Forellen, Aalen, Karpfen und Krebsen herzu, damit es in der fürstlichen Küche nicht an gebührender Abwechslung fehle. Wer von den Bauern auf der Treiberliste stand, tat gut, sich beizeiten nach dem Wildstecken und der Hasenklapper umzusehen und sich pünktlich bei dem Herrn Oberjägermeister zu melden, der die Mannschaften den von Jägerburschen geführten einzelnen Gruppen zuteilte. Wenn auch vielleicht hier und da einmal ein Familienvater dachte, das Dreschen in der Scheune sei nützlicher und notwendiger wie das Lärmschlagen im Walde, so hütete er sich doch wohl, solchen Gedanken Worte zu leihen, denn in dem Punkte verstanden Serenissimus wenig Spaß. Um so mehr freuten sich die jungen Burschen des ungebundenen Streifens über Berg und Tal, durch Feld und Wiesen, wobei es an lustigen Schelmenstreichen und gegenseitigen Neckereien nicht fehlte. Weniger erbaut waren sie allerdings über die vom fürstlichen Gefolge des Nachmittags veranstalteten Tanzbelustigungen, an denen die jungen Bauerndirnen auf ausdrücklichen Wunsch des Landgrafen teilnehmen mußten. Aber sie wären auch ohnedies freiwillig gekommen. Denn die feinen Herrchen und die schmucken Jägerknechte in ihren kleidsamen Uniformen stachen doch gar zu angenehm von den gewohnten Tänzern ab. Und dazu die herrliche Tanzmusik! So war es auch an einem freundlichen Oktobernachmittag des Jahres 1738. Im geräumigen, viereckigen Gesindehof des Jagdschlosses drehten sich in munterem Reigen die Paare. Auf der Bank vor dem langgestreckten Pferdestall saßen die Fiedler, Pfeifer und Posaunisten, während ein behäbiger Trommelschläger mit unerschütterlichem Gleichmut das ausgelassene Spiel im Takte hielt. Die flinken Jägersleute schwenkten ihre handfesten Tänzerinnen mit manchem Juhschrei im tollen Wirbel, so daß die kurzen Röcke der Hinterländer Schönen nur so flogen. Zum großen Gaudium des zuschauenden Landgrafen. Etwas abseits trug ein absonderlicher, beinahe närrisch gekleideter Lautenschläger allerlei derbe Lieder vor, die nicht verfehlten, die größte Heiterkeit bei den umstehenden Landleuten, zumeist Männern und älteren Frauen, zu erwecken. Scharf spähte der Sänger mit seinen listigen Augen in die Runde, und wo er einen Angriffspunkt für seine boshaften Neckereien entdeckte, da war er mit losen Worten gleich bei der Hand. Die allgemeine Aufmerksamkeit aber wendete sich bald von ihm ab, als jetzt der oberste Jagdherr ein überaus fein geputztes Junkerchen zu sich heranwinkte und ihm mit leiser Stimme einen Befehl gab. Da ging der Angeredete zögernden Schrittes auf ein altes, häßliches Bauernweib zu. Eine zierliche Reverenz machend und ihr den Arm reichend, trat er sodann mit der Alten, auf deren runzeligen Gesicht Vergangenheit und Stolz auf lächerliche Weise um den Vorrang stritten, zum Tanze an. Nach etlichen Runden wollte er, des grausamen Spieles müde, sich mit einer Verbeugung verabschieden. Doch er hatte die Rechnung ohne Ludwig VIII. gemacht. „Halt, junger Herr", rief dieser gut gelaunt aus, „ist er so wenig erfahren in dieses Landes Brauch und Sitte, daß er nicht weiß, was seiner Dame zukommt und gebühret?" Freilich wußte es der Junker — allein, die Alte zu küssen, das schien ihm doch zuviel verlangt. Bestürzt schaute er den Gebieter an. Aber dessen Miene blieb unbewegt. Da beugte sich kurz entschlossen der Listige zu der Bäuerin nieder und drückte einen laut vernehmbaren Kuß auf— seine eigene Hand, die er blitzschnell an die Wange des Weibes gebracht hatte. Lauter Beifall und Händeklatschen ringsum belohnten seinen guten Einfall. Auch der Landgraf war mit dieser glücklichen Lösung augenscheinlich wohl zufrieden. Leutselig mischte er sich unter die Menge und zog bald hier, bald dort einen Bauersmann ins Gespräch, als ihm der hinzutretende Geheime Finanz-Oberkommissar die Meldung brachte, daß der zur Audienz befohlene Schultheiß von Engelbach eingetroffen sei. „Dann wollen wir den Mann nicht länger warten lassen, um uns seine Gunst zu verscherzen", meinte Ludwig und begab sich mit dem treuen Berater und erprobten Freunde nach seinen Gemächern. —Für den fürstlichen Jagdherrn recht unbequem gelegen und ihm manche ärgerliche Stunde bereitend, grenzte an das Katzenbacher Revier ein Teil des Engelbacher Gemeindewaldes, das Aarnest. Von dem mehr als 600 Meter hohen Berge, nach dessen Namen der Distrikt benannt war, eilen nach allen Seiten hin kleine Gewässer zu Tal, besonders beliebte Aufenthaltsorte für das Rotwild. Nach dem Besitze dieses Waldes stand des Landgrafen Sinn, seitdem er zum erstenmal hier gejagt hatte. Um so mehr, als gar mancher feiste Hirsch von hier aus, dem nach Osten ziehenden Bacheslauf folgend, seinen Wechsel nach dem Kurhessischen zu nahm und den dortigen Förstern in die Hände fiel. Die Sache verdroß ihn auch deswegen nicht schlecht, weil er mit seinen Kasseler Vettern wegen der Erbstreitigkeiten um das Amt Babenhausen auf gespanntem Fuße lebte. Dazu besaßen die Engelbacher den Wald nicht einmal mit Recht, denn wie der Geheime Rat Schulz aus den Akten festgestellt hatte, waren sie vor ungefähr 200 Jahren von den Herren von Ders zu Fronhausen mit dem Aarneste an Stelle des ausgegangenen Albertshausen gelehnt worden, ohne daß sich die Stifter um die Genehmigung der Landeshoheit glaubten bekümmern zu müssen. Schon öfters hatte Landgraf Ludwig den Engelbachern Kaufangebote gemacht, aber diese hielten hartnäckig an ihrem Aarnest fest. Heute war ihr Schultheiß, Henche Aßmann, zur nochmaligen Verhandlung eingeladen worden und stand im feierlichen weißen Leinwandkittel, in kurzen, strammsitzenden Lederhosen und den Sonntagsschuhen mit den blanken Messingschnallen vor seinem Landesherrn. „Nun, Herr Schultheiß", begann der Landgraf die Unterredung, „wie steht‘s mit unserem alten Handel?" — „Halten zu Gnaden, Hochfürstlicher Herr", antwortete, verlegen die Mütze in den Händen drehend, der Dorfgewaltige, „insonderheit, was mich betrifft, so möchte ich gerne zu Hochdero Diensten sein, aber was da der Heinz Schmeckpfeffer ist und der Peter Gilbert wie denn auch der Gemeindsmann Wigel so . . .„ — „Also weigert ihr mir das Aarnest nach wie vor?" unterbrach ihn der Landgraf. „Insonderheit ja, so ist es, Hochfürstlicher Herr", bestätigte Aßmann froh, einer weiteren Erklärung überhoben zu sein. Auf diesen Bescheid hin zog Ludwig die Stirne nachdenklich in Falten, doch blieb er ruhig und gemessen. Nachdem er sich eine Weile im Nebenzimmer mit Schulz beraten hatte, trat er wieder herein und sagte: „Ihr könnt gehen, Schultheiß, und vergeßt nicht, Euren Querköpfen zu Haus einen Gruß zu bestellen, daß ich die Hoffnung nicht aufgebe, das Aarnest doch noch einmal mein Eigentum nennen zu können!" Henche Aßmann empfahl sich mit vielen Bücklingen. Als er draußen war, machte der Landgraf seinem innerlichen Grimm in bitteren Worten Luft. „Wieviel hatten wir den Kerlen doch geboten, Schulz?" — „Hundertundzwanzig Goldgulden nebst Befreiung von Hand- und Spanndiensten auf zehn Jahre", gab der Oberkommissar Auskunft. „Und das schlagen sie aus? Unverschämt, sehr unverschämt in der Tat!" Schulz hatte über den Fall seine eigenen Gedanken. Im Herzen freute er sich, daß aus dem Kauf nichts geworden war. Die fürstliche Kasse war ohnehin schon lange an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt. Wenn die Landstände nicht bald wieder einmal helfend einsprangen, dann mußte man sich mit dem Gedanken vertraut machen, die kaiserliche Exekutionskommission in den Darmstädter Landen ihres Amtes zu sehen. Der erboste Landgraf aber riß das Fenster auf und befahl dem im Hof auf und ab gehenden Lakaien, alles, was nicht zum Gefolge gehöre, auf der Stelle hinauszujagen. Darauf brach die Musik ab, und die Landleute schlichen erschrocken, von den wenig schmeichelhaften Redensarten des Hofgesindes begleitet, über die Berge ihren Dörfern zu. Eine beängstigende Stille lagerte über Katzenbach. Es hatte sich schnell herumgesprochen: Ihre Hochfürstliche Gnaden waren nunmehr sehr übler Laune. Der Winter kam und breitete über das Hinterland eine weiche, unendlich lange und breite Schneedecke. Auch die Grenzsteine in Nord, Ost und West deckte er gründlich zu, als ob er sagen wollte: „Das ist ja nur eitel Menschenwerk. Was scherts mich, ob ihr darm- städtisch, kasselisch oder nassauisch seid, für mich sei ihr nur ein lächerlich winziges Fleckchen auf dem großen Erdenball." Das jäh unterbrochene Katzenbacher Fest war längst vergessen, nur in Engelbach bildete es noch immer den Gegenstand eifrigster Unterhaltung. Die Leute fühlten sich offenbar unbehaglich unter der Ungnade des Landgrafen, die wie ein dumpfer Druck auf allen Gemütern lastete. Es hatten sich zwei Parteien im Dorf gebildet, die sich gegenseitig eifrig befehdeten. Die eine war für, die andere gegen den Verkauf des Aarnestes. An der Spitze der letzteren stand der Schultheiß mit einem Teil des Gemeindevorstandes nebst den älteren Einwohnern, während die fortschrittlich gesinnte jüngere Generation den Standpunkt vertrat, daß es töricht sei, das Anerbieten des Landgrafen abzuschlagen. Die Reibereien zogen sich monatelang hin. Henche Aßmann, vor dem sich seither jedermann geduckt hatte, dem niemand zu widersprechen wagte, mußte sich von dem in einer dunklen Nacht aus den Spinnstuben heimströmenden jungen Volk eine regelrechte Katzenmusik gefallen lassen. Da wurde ihm klar, daß seine Position bedenklich erschüttert sei und er sann eifrig darüber nach wie er den Frieden im Dorfe wiederherstellen, den Gegensatz zwischen Fürst und Untertanen vermitteln und beide Teile zufriedenstellen könne. Bald bot ihm ein günstiger Zufall die Hand zur Ausführung dieses löblichen Vorhabens. Als die Zeit gekommen war, hatte die Frühlingssonne dem Schnee den Buckel so warm gemacht, daß er es vorzog, sich in eine schmutzig-gelbe Brühe aufzulösen und nach den Tälern hin zu verschwinden. Die Grenzsteine kamen wieder zum Vorschein und mit ihnen allenthalben das zarte, junge Grün. (Fortsetzung folgt) Wie das Jost Mankel, der Schäfer von Engelbach, inneward, setzte er sogleich den Termin zum Frühjahrsausmarsch seiner Herde fest. Zum ersten Standquartier erkor er sich eine Lichtung am Fuße des Aarnestes, die vor ungünstigen Witterungseinflüssen ziemlich geschützt war. Zufriedenen Gemütes rauchte er den garnumwickelten irdenen Stummel und betrachtete mit Wohlgefallen seine stattliche Schar. Und wenn die scharfe Hessenluft über den Burgwald her zeitweise noch nasse Schauer mitbrachte, dann kroch er wohlbehaglich in seine Hütte, deren Dach, eine Arbeit des weit und breit berühmten Strohdeckers Hannchrist Schneider von Eisenhausen, auch dem schlimmsten Regengusse Trotz bot. Das ging so fort, einen Tag um den anderen, da trat Anfang des Monats April ein Ereignis ein, das ihn samt allen Engelbachern in die größte Aufregung und Besorgnis stürzte. Mankels Weib, die Annelies, hatte wieder einmal das Reißen in allen Gliedern, mußte das Bett hüten und konnte daher ihrem Alten den Suppentopf nicht hinaustragen. So war er denn gezwungen, seine Herde auf einige Stunden zu verlassen, um sich das Mittagsmahl selbst zu besorgen und daneben die notwendigsten Arbeiten in Haus und Stall zu erledigen. Er hatte das schon öfters getan und auch seinen Melas mitgenommen, denn der Hund wollte doch auch etwas Warmes in den Leib haben. Als er nun wieder zur Herde zurückkehrte, fiel ihm sogleich eine seltsame Unruhe unter den sonst so geduldigen Tieren auf, und von einer schlimmen Ahnung beschlichen, stellte er zu seinem nicht gelinden Schrecken nach einem prüfenden Blick fest, daß die Häupter seiner Lieben sich um eines verringert hatten. Wiederholt zählte er und immer mit dem gleichen betrüblichen Ergebnis. Ein Lamm war und blieb verschwunden. Sollte ihm etwa der Nachbarhirte einen Streich gespielt haben? Oder hatte einer der Wanderschäfer, die im Frühjahr lahnaufwärts zogen, das Tier als gute Beute angesehen? Forschend bückte er sich zur Erde nieder und durchsuchte die Umgebung nach etwaigen Fußspuren des Räubers. Nichts zu entdecken. Auch den Wald suchte er ab, doch umsonst. Nun machte er sich bittere Selbstvorwürfe, daß er den Melas nicht zur Bewachung dagelassen hatte. Der würde es dem Gauner schon gezeigt haben! Als ob der Hund die Gedanken seines Herrn erraten hätte, ließ er ein zorniges Knurren hören. In dieser Nacht tat der Schäfer von Engelbach kein Auge zu, denn am nächsten Morgen sollte er einen Gang tun, es galt, dem Schult-heißen Meldung von dem Vorgefallenen zu machen. Wie er den Henche Aßmann kannte, würde ein entsetzliches Donnerwetter über sein Haupt hereinbrechen. Dazu war die Aussicht auf ein neues Hirtenhäuschen durch das Unglück auch wohl wieder in bedenkliche Ferne gerückt. Durfte er denn als ein pfichtvergessener Hirte noch auf die Belohnung rechnen? Seine Befürchtungen waren nicht übertrieben gewesen. Der erzürnte Schultheiß verurteilte ihn nicht nur zum Ersatz des verlorenen Schafes, sondern hielt ihm obendrein lange Rede über die Eigenschaften eines treuen Hirten und kündigte ihm im Wiederholungsfalle die Amtsentsetzung an. Ohne von seiner Annelies Abschied zu nehmen, eilte der also Gemaßregelte wieder aufs Feld hinaus. Doch, was war das? Melas sprang ihm nicht freudig bellend entgegen? Einen gellenden Pfiff sandte er nach seinem Hund aus. Aber der Hund ließ sich nicht blicken. Den armen Schäfer überlief es heiß und kalt. Schlimmes ahnend, irrten seine Augen über die Herde. Und dann hätte er vor Schreck in den Erdboden versinken mögen, denn das Unerhörte war zum zweitenmal Ereignis geworden. Diesmal fehlte des Schultheißen schwarz gefleckter Jährling! War das eine Aufregung und ein Entsetzen, als die Geschichte im Dorfe ruchbar wurde. Henche Aßmann befahl sofort sämtliche Männer zu einem Streifzug in die Wälder, um den Dieb, über dessen Person die verschiedensten Mutmaßungen ausgetauscht wurden, vielleicht noch zu erjagen. Schließlich einigte man sich dahin, daß hier Zigeuner ihre Hand im Spiel hatten, verstanden sie doch die Kunst, auch den schlimmsten Hund sich durch Zauberei gefügig zu machen. Der Schultheiß teilte sein mit Knüppeln, Sensen und Dreschflegeln bewaffnetes Heer in drei Haufen. Der erste soll nach Hassenroth zu marschieren, der zweite die Schlupfwinkel an der Grenze absuchen, während der dritte unter seiner persönlichen Führung die Verfolgung im Aarnest aufnahm. Auch Jost Mankel schloß sich an „denn", sagte er sich, „die Lämmer sind fort, der Melas ist fort, und wenn ich den nicht wiederkriege, mag der Teufel die ganze Herde holen". Da ließen ihn seine Brotherren mitziehen, zumal die Annelies, die der Schreck wieder auf die Beine gebracht hatte, sich erbot, unterdessen ihres Mannes Stelle zu vertreten. Je zwei Mann hielten sich bei der Streife zusammen, denn es war ihnen allen nicht geheuer, mann konnte nicht wissen, was da für böse Geister die Hand im Spiel hatten. Einer sprach dem anderen Mut zu und stieß dabei erschreckliche Drohungen gegen den verworfenen Lämmerräuber aus. Hängen und Vierteilen war das mindeste, von Knochen kurz und klein schlagen ganz zu schweigen. Schäfer Mankel, von der Sehnsucht nach Melas und einem glühenden Rachedurst getrieben, eilte allein weit voraus. Dicht hinter ihm folgten der Schultheiß und der Schmeckpfeffer. Schon war man bis zur Hälfte des Gipfels vorgedrungen, als der Hirte plötzlich stille stand. Gespannt horchte er, die Hand an das rechte Ohr legend, in die Ferne. Erwartungsvoll hemmten auch die Nachfolgenden den Schritt. Jetzt erkannte er deutlich die Stimme seines Hundes. Und den Schippenstiel fester umfassend, durchbrach er in langen Sätzen das Gebüsch. „Melas, wo bist du?" Ein heiseres Knurren war die Antwort. Im nächsten Augenblick hatte er, mit Ungestüm vordringend, eine kleine Waldblöße vor sich, wo sich ihm ein seltsamer Anblick bot. Mit über und über blutiger Schnauze und zerrissenen Ohrlappen stand Melas auf einem riesigen Vogel, der die verzweifelten Anstrengungen machte, den tapferen Hund abzuschütteln. Auch der Unterlegene blutete aus mehreren Wunden. Ein Flügel hing ihm kraftlos zu Boden, während der andere, der gut zwei Ellen in der Länge maß, sausend die Luft durchschnitt. Aber Melas‘ starke Zähne hielten den Hals des Feindes wie in einer eisernen Klammer, den Hieben der messerscharfen Fänge wußte er sich durch Seitensprünge geschickt zu entziehen. Nicht weit davon lag mit zerhacktem Kopf ein totes Lamm. „Ihr Leute, hierher!" schrie Mankel, und von allen Seiten kamen die Mannschaften heran. Mutig warfen sie sich auf das Untier und machten es durch Fesselungen wehrlos. Jost Mankel hatte große Mühe, seinen Hund zurückzuhalten, der sich immer wieder auf seinen Widersacher stürzen wollte, um ihm den Garaus zu geben. Schon gedachte die Heldenschar im Triumph den Heimmarsch anzutreten, als ein zweiter Trupp mit einer neuen Wundermär erschien. Am Südhange des Berges hatte man auf einer uralten, hohen Eiche ein ungeheures Nest entdeckt, dessen Unterlage aus armdicken Knüppeln bestand. Umherliegende Knochen und mancherlei Tier-reste zeigten den Weg zum Horst, der, von unten gesehen, einem kleinen Holzstoß zu vergleichen war. Es bestand kein Zweifel mehr. Der gefährliche Räuber hatte sich das Aarnest zum Aufenthaltsort gewählt, um die Engelbacher ihrer stattlichen Schafherde zu berauben. Ein Glück, daß Mankels Melas ihm beizeiten das Handwerk gelegt! Dann ging es im Triumph zum Dorfe zurück. Bis zum Eintreffen des Amtmanns aus Biedenkopf, den der Schult-heiß durch Eilboten pflichtschuldig von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzt hatte, wurde der Gefangene vorläufig im Gemeindebackhaus in strengem Gewahrsam gehalten. Ganz Engelbach hatte sich versammelt, und wer nicht mit gewesen war, der forschte eifrig bei den Augenzeugen nach aufregenden Einzelheiten. Uber Art und Name des Riesenvogels entspannen sich bittere Wortge fechte. Einige meinten, es sei ein Geier, andere hielten ihn für einen Falken, ein altes Mütterchen aber erklärte ihn rundweg für den leibhaftigen Höllendrachen. Melas, der das Hauptverdienst des Tages für sich in Anspruch nahm, lag schwerfällig auf dem Stroh in seiner Hütte. Nicht seiner ehrenvoll erworbenen Wunden wegen, die waren für ihn, den grimmigen Verfolger jeglichen Raubzeuges, nichts Neues, aber er hatte sich an den vielen guten Bissen, die ihm zur Belohnung seiner Heldentat allseits gereicht wurden, gründlich den Magen überladen, was man ihm gar nicht so sehr verübeln konnte, da im Hirtenhause für gewöhnlich Schmalhans Küchenmeister war. Noch stritt man hitzig hin und her, als nahendes Pferdegetrampel die Menge aufblicken ließ. Hoch zu Roß erschien der Amtmann Ambrosius Stumpfius und Gerichtsschreiber Trutwin aus Biedenkopf, letzterer einen umfangreichen Schweinslederband unter dem Arme tragend. Sofort machten alle ehrerbietig Platz. Die Männer und Burschen rissen die Mützen herunter, die Weibsleute beugten sich mit tiefem Knicks. Ein erwartungsvolles Schweigen trat ein. Nur Henche Aß-mann sprang eilfertig herzu und half dem Amtmann vom Gaul. Darauf räusperte er sich, holte tief Atem, um speziellen Bericht zu erstatten. „Hochmögender Herr Amtmann", begann er, „insonderheit. . .„ Stumpfius winkte ab. „Man bringe den Delinquenten zur Stelle!" Drei, vier, fünf, ein Dutzend Leute beeilten sich, dem Befehl Folge zu leisten und schleppten den Lämmermörder, der sich inzwischen von den vielen Püffen etwas erholt hatte und tückische Blitze aus den Augen sprühte, in den Kreis. Der Amtmann schob seine grüne Schirmmütze weit zurück, zog ein unförmiges Futteral hervor und entnahm ihm die altväterliche, plumpe Hornbrille. Wiederum versenkte er seine Hand in die unergründliche Tasche des kaffeebraunen Uberrockes und brachte ein seidenes Tüchlein zum Vorschein, worauf er die Brille umständlich zu putzen anhub, bevor er sie mit bedächtiger Vorsicht auf seine Nase setzte. Gleichsam, um diesen Gesichtsteil für die ihm zugemutete Last zu entschädigen, griff er jetzt mit unverminderter Bedächtigkeit nach der silbernen Schnupftabaksdose und nahm eine kräftig bemessene Prise. Während all dieser Vorbereitungen hätte man ein Blatt können zur Erde fallen hören. „He, Schultheiß", wandte sich der Hochmögende nun an Henche Aßmann, „kann er mir sagen, was für ein Tier das sei?" — „Halten zu Gnaden, Herr Amtmann, ein Geier." — „Und du?" erkundigte er sich bei dem Burschen, der seinen Braunen am Zügel hielt. „Auch ein Geier", war die Antwort. Er fragte einen Zweiten und Dritten. Mit demselben Erfolg. Ein halbwüchsiger Junge trat keck hervor und hob den Finger. „Nun?" — „E Raabvuul!" Da hätten nun alle gerne gelacht, aber des Amtmanns strenge Miene blieb unverändert. „So laßt denn sehen", sprach er jetzt, „was hier der hochgelehrte Conradus Geßner in seinem fürtrefflichen Werke „Icones avium omnium" von eurem Vogel zu sagen weiß. Schlaget auf das Kapitel der Aquilinae, Herr Sekretarius, und reichet mir sodann das Buch!" Abwechselnd einen Blick auf den Vogel und in. seinen „Geßner" werfend, fing er zu vergleichen an. Hierauf wandte er sich wieder an die versammelte Gemeinde. „Ist er nicht braun gefärbt auf Brust und Rücken? Hat er nicht einen weißen Fleck auf seinem Halse? Gleicht des Tieres Schnabel nicht einem krummen Messer?" Und so fort. Jedesmal antwortete der Chorus in maßlosem Erstaunen über das allwissende Buch mit einem erfreuten „Jawohl, Herr Amtmann". —„Und endlich", fuhr dieser fort, „heißt er nicht das ‚Aarnest‘, der Berg, allwo ihr dieses seltene Exemplar erbeutet? Nun wisset, ihr Leute, vor zweihundert und mehr Jahren schon einmal nistete sein Geschlecht dort oben und gab dem Walde seinen Namen. Ein Aar ist es, den ihr bezwungen habt." Da ging der Schäfers Annelies ein Licht auf. Daß sie auch nicht längst von selbst darauf gekommen war! Hatte sie doch von ihrer seligen Großmutter die Geschichte vom Aarnest wer weiß wie oft erzählt bekommen. Erfreut, des Amtmanns Aussage mit ihrer Weisheit bestätigen zu können, drängte sie sich lebhaft vor. Doch ehe sie ein Wort hervorbringen konnte, wies der Gestrenge ihren Vorwitz nachdrücklichst in seine Schranken zurück: „Mulier tacet in ecclesia, Weib, halte sie ihren Mund, bis sie gefragt wird!" — Die Annelies verschwand. Hierauf klappte der hochmögende Herr Ambrosius Stumpfius sein Buch zu, bestieg den Klepper und trabte mit seinem Schreiber ohne Gruß davon. Als die Reiter hinter den letzten Hütten verschwunden waren, ging der Jubel los. Also einen Aar hatte man gefangen, den König aller Vögel, und das ausgerechnet in Engelbach! Ein erhebendes Gefühl schwellte eines jeden Ortsbürgers Brust. In diesem feierlichen Augenblick hätte man in Engelbach selbst mit dem sonst soviel bewunderten Biedenkopf nicht getauscht. Aber eine Hauptfrage war durch den unvermuteten Aufbruch des Amtmannes offengeblieben. Was sollte man mit dem Aar nun weiter anfangen? Soviele Köpfe, soviel Meinungen. Endlich einigte man sich dahin, die Regelung dieser Angelegenheit vertrauensvoll den Vätern des Dorfes und ihrer Weisheit zu überlassen. Der Schultheiß berief zu diesem Zweck eine sofortige geheime Ratssitzung. Ehe die Männer sich jedoch an die Erledigung des Haupt-punktes ihrer Beratung machten, verwilligten sie für die Teilnehmer des Streifzuges einen ausgiebigen Freitrunk auf Gemeindeunkosten. Ein Beschluß, der bei allen ungeteilte Zustimmung fand. Dann zog sich der Ausschuß zur weiteren Verhandlung ins Gemeindezimmer zurück. Als erfahrener Debatteleiter ließ Henche Aßmann die übrigen Mitglieder zuerst ihre Meinung vortragen, ehe er das Wort ergriff, denn mit Blitzesschnelle war ihm ein Gedanke durch den Kopf gefahren, dessen Kühnheit wahrhaft überwältigend auf seine Mitbürger wirken mußte, ein Plan, dessen Ausführung ihm einen Ehrenplatz in der Geschichte Engelbachs zu sichern geeignet war für alle Zeiten. Schäfer Mankel, den man sonst um keinen Preis im Kollegium geduldet hätte, war ebenfalls anwesend. Als Besitzer des tapferen Melas hatte er ein Recht dazu. Er beantragte dann auch als erster Redner, den Raubvogel eines grausamen Todes sterben und zur Warnung für seinesgleichen im „Aarnest" aufhängen zu lassen. Ihm schloß sich Heinz Schmeckpfeffer in der Hauptsache an, nur wollte er den Missetäter nach gutem alten Brauch an ein Scheunentor an-genagelt wissen. Seine Ausführungen wurden beifällig aufgenommen, allein als man die praktische Ausführung diskutierte, nahm jeder die noch nie dagewesene Zierde für seine eigene Hofraite in Anspruch. (Fortsetzung folgt) Gerade noch rechtzeitig genug, um den stark gefährdeten Frieden zu erhalten, trat jetzt der Gemeindsmann Wigel mit einem neuen Vorschlag auf den Plan. „Ihr lieben Männer", sagte er, „muß das Tier denn unbedingt sterben? Wir können es für seine schlimmen Taten doch nicht verantwortlich machen gleich einem vernünftigen Menschen. Der Aar wird schon aus Not zum Räuber und Dieb geworden sein. Darum stelle ich den Antrag, daß er von der Gemeinde aus gepflegt wird und gefüttert, bis wir einen guten Käufer für ihn finden, denn er ist eine seltene Ware!" Allein seine Rede weckte starken und einmütigen Widerspruch. Der Schäfer Mankel richtete sogleich die höhnische Frage an den Sprecher, ob man denn bei seinen, nämlich Wigels Schafen, mit der Fütterung anfangen dürfe, denn, wie man erfahren habe, sei das Ungetüm mit Kraut und Rüben nicht zufrieden. Damit hatte Mankel die Lacher auf seiner Seite und Wigel war mit seinem Vorschlag glänzend durchgefallen. Doch möchte er sich damit trösten, durch sein Eingreifen die Einigkeit im Plenum wiederhergestellt zu haben. Nun erhob sich Henche Aßmann, der Schultheiß, in seiner ganzen Größe. „Liebe Freunde", hub er an, „was ihr da insonderheit vorgebracht, will ich nicht verwerfen, indessen höret auch meine Meinung, und wenn ihr dann nicht saget: ‚Unser Schultheiß hat wiederum das Rechte ersonnen‘, so will ich mein Amt nicht eine Stunde länger mehr führen. Insonderheit, ihr wisset, wie unser Hochfürstlicher und gnädiger Herr, der Landesgraf, uns übel gewogen ist wegen des ‚Aarnestes‘, unseres Gemeindewaldes. Es ist euch auch nicht unbekannt, daß er ein Freund ist von allerlei seltenem Tier und Gevögel. So frage ich jetzt: Kann sich all das tote Geierzeug, das er ausgestopft auf Tisch und Schränken in Katzenbach stehen hat, mit unserem Aar vergleichen? Nein, sage ich. Darum wollen wir ihm den Gefangenen zum Geschenke machen in seiner Residenz zu Darmstadt, vielleicht, daß sich sein Grimm gegen uns in Wohlwollen und Gnade wandle!" Das schlug ein. Begeistert sprangen die Männer von ihren Sitzen auf und drückten ihrem Schultheiß die Hand. Das war ihnen allen aus dem Herzen geredet, sie empfanden es schon lange schmerzlich, daß die Sonne der landesherrlichen Gnade für Engelbach untergegangen war. Schäfer Mankel erklomm den Tisch, schwenkte den verwitterten Hut und schrie, daß man‘s gassenweit hören konnte: „Unser gnädigster Landgraf soll leben und unser Schultheiß daneben! Hoch, hoch, hoch!" Dröhnend stimmte die Runde der Gemeindevertreter ein. Nur der Schöffe Peter Hahn meldete sich noch einmal zum Wort. Ob man die günstige Gelegenheit nicht benutzen wolle, bei dem Landgrafen um Versetzung eines herrschaftlichen Beamten nach Engelbach vorstellig zu werden, da hierdurch der Ruhm des Dorfes in der Nachbarschaft noch bedeutend vermehrt werden könne. Denn er hatte ein funkelneues Haus am Dexbacher Weg leerstehen und hoffte auf diese Weise in den Ruf eines eifrigen Förderers der Gemeindeinteressen und, was ihm die Hauptsache war, zu einem prompt und reichlich zahlenden Mietsmann zu kommen. Aber die Ratsleute, die seinen Plan durchschauten, erklärten diese Angelegenheit gegenüber der wichtigen Tagesfrage für nebensächlich und wiesen den Antrag einstimmig zurück. Mit zornesrotem Kopf verließ der Schöffe Hahn die Sitzung. Dagegen fühlte sich Henche Aßmann auf der Höhe der Situation. Desgleichen Schäfer Mankel. Der Neubau des Hirtenhauses, wußte er, war gesichert. Und als man sich in später Stunde trennte, war es beschlossene Sache, daß der Schultheiß nebst Schmeckpfeffer und Mankel am nächsten Tage die Reise nach Darmstadt antreten würden. Mit dunklem Schleier hatte sich die Frühlingsnacht über den ereignisreichen Tag gesenkt. Einsam lagen die Straßen des Dorfes, nur aus der Gegend, wo sich das junge Volk noch immer beim Frei-trunk vergnügte, schallten verworrenes Gejohle und Gekreisch. Ab und zu trug der Wind Bruchstücke eines Schelmenliedes zu den Heimkehrenden herüber. „Es fuhr ein Bauer ins Hi-Ha- Heu, es fuhr ein Bauer ins Heu." Der nächste Vormittag verstrich unter mannigfachen Zurüstungen. Die Schuhe wurden gehörig eingeschmiert, und wo‘s nötig war, mit neuen Nägeln versehen, die Quersäcke mit Brot und Räucherspeck verproviantiert, die Feiertagskittel mit den gestickten Schulterstükken aus der Lade hervorgeholt und die silberumbordeten Mützen mit Schwanzfedern des Aars geschmückt. So schieden die drei Männer nach vielen Ermahnungen an Frau und Kind, nachdem der Schultheiß seinen Stellvertreter über das Verhalten im Falle von Feuers- oder anderen Nöten genau belehrt hatte. Der Aar steckte gebunden in einem alten Sack, der abwechselnd von den Abgesandten getragen wurde. Auf Befehl des Schultheißen hatte die Annelies dem Vogel vorher noch einen Imbiß zubereiten müssen und ihm die Mahlzeit vertrauensvoll vorgehalten. Aber der oberste aller Vögel verstand die Sache falsch und riß seiner Wohltäterin in schnödem Undank einen tüchtigen Hautfetzen von der Hand weg. Das war dem resoluten Weibe denn doch zu stark, darum verbläute sie den Undankbaren zum Abschied erst noch einmal weidlich mit dem Stallbesen. Melas war sehr enttäuscht, daß er nicht mit durfte und drückte seinen Schmerz durch jämmerliches Heulen aus. Bis an die Gemarkungsgrenze gab fast das ganze Dorf den Dreien das Geleite, und die Schuljugend kehrte sogar erst in Eckelshausen um. Unter eifrigen Gesprächen, die den Weg angenehm verkürzten und vorzugsweise das Verhalten bei Hofe zum Ausgangspunkte hatten, gelangte man über Gladenbach nach Königsberg, von wo aus noch der berüchtigte Krofdorfer Wald zu durchschreiten war. Der Gedanke an ihre wichtige Mission ließ keine Bangigkeit bei den Wandersleuten aufkommen. Schon war die Sonne hinter den Baumkronen niedergegangen und man hatte einen Seitenpfad eingeschlagen, als ein verdächtiges Rascheln im dichten Unterholz sie nach einigen Schritten horchend stille stehen ließ. Aber jetzt war nichts mehr zu hören. Doch stets, wenn sie weitergingen, wiederholte sich das Geräusch. „Ihr Männer", flüsterte der Schultheiß, „es ist klar, wir werden verfolgt!" Furcht und Zittern fuhr ihnen allen in die Glieder. Der Schäfer ermannte sich zuerst und rief mit lauter Stimme: „Wer da?" Niemand antwortet ihm. Nun legte er in alter Gewohnheit die Finger an die Zähne und ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen. Und wer darauf wie ein Pfeil durchs Gebüsch geschossen kam, war kein anderer als — Melas. Fast hätte er seinen Herrn vor Freude umgeworfen. „Ei du verfluchter Meckes", begrüßte ihn Mankel, der nicht wußte, ob er das treue Tier loben oder schelten sollte, „wie hast du uns erschreckt? Habe ich dich nicht geheißen, daheim zu bleiben, he?" Seinen Begleitern dagegen kam der Hund wie gerufen, weil er ihnen das Bewußtsein einer erhöhten Sicherheit gab. Ohne weiteren Zwischenfall wurde Heuchelheim erreicht, wo man für die Nacht bei einem Berufsgenossen des Schäfers Unterkunft fand. Am folgenden Tag in aller Frühe wurde der Marsch fortgesetzt, über Butzbach, Friedberg und durch die Stadt Frankfurt ins Darm-städtische hinein. Das sich immer mehr verflachende Landschaftsbild gab den Männern Anlaß, Vergleiche mit ihrer Heimat anzustellen, die, wie nicht anders zu erwarten, zugunsten des Hinterlandes ausfielen. „Die Gegend sieht aus", meinte Heinz Schmeckpfeffer, „wie ein Gesicht ohne Nase". Die Reisegenossen fanden diese Bemerkung ausgezeichnet. Kein Wunder, daß der Landgraf jedes Jahr zu ihnen •nach Katzenbach kam! Auf einem Landgut in nächster Nähe der Residenz wurde das zweite Nachtquartier bezogen, da es doch nicht Anstand gewesen wäre, bei dem Landgrafen so spät anzuklopfen. Dazu machte sich die große Müdigkeit bei den Reisenden geltend, zumal sie die Jüngsten auch nicht mehr waren. Der Hofbesitzer, vom Ziel ihrer Fahrt unterrichtet, zeigte sich äußerst zuvorkommend gegen seine Gäste, bewirtete sie freundlich mit Speise und Trank, so daß die Proviantsäcke gar nicht aufgebunden zu werden brauchten, und machte ihnen auf der Tenne eine saubere Streu zurecht. Bald stimmten Schmeckpfeffer und Mankel ein liebliches Schnarchlied an. Der Schultheiß aber konnte nicht so schnell den Schlaf finden, weil ihm seine Ansprache an den Landgrafen, über deren endgültige Fassung er noch nicht recht im klaren war, beständig im Kopfe herumging. Zwar übermannte auch ihn endlich die Müdigkeit, aber ein immer wiederkehrender Traum störte ihn empfindlich im Schlummer. Der Aar hatte ihn nämlich am Kragen gepackt und entführte den sich verzweifelt Sträubenden hoch in die Lüfte. Unten in grausiger Tiefe starrten Hunderte von nadelspitzen Kirchtürmen. Mit Leibeskräften klammerte sich der Arme an den Vögel, aber dieser öffnete die Fänge und ließ die Beute fallen. Minutenlang dauerte der Fall und wollte gar kein Ende nehmen, bis Aßmann angst- und schweißgebadet erwachte. Er war von seinem Strohsack heruntergepurzelt. Schon schien die helle Morgensonne durch die Bodenluke. Ihre Strahlen tanzten zum Scheunentürchen herein um die Gesichter der noch schlafenden Gefährten und verwandelten das Heer der feinen Staubkörnchen — die Pferdeknechte waren am Heurupfen — in ein breites, goldig schimmerndes Band. — Im Hof und Stalle gingen die Mägde auf und ab, die Kühe brüllten und die Schweine grunzten. Darunter mischte sich das Gegacker der Hühner. Aus allen den ihm wohlbekannten Anzeichen schloß der munter gewordene Henche Aßmann, daß es an der Zeit sei, sich wieder auf die Beine zu machen. Mit Mühe und Not rüttelte er seine Kameraden wach. Nachdem die Schlafgäste das Wasser des Laufbrunnens zur innerlichen und äußeren Auffrischung in Anwendung gebracht, nahmen sie unter herzlichen Dankesworten von dem Hofbesitzer Abschied und gelangten noch am selbigen Morgen in die Residenz. In würdiger Haltung zogen sie mit langen Schritten dem landgräflichen Schlosse zu. Doch als sie jetzt an der Wache vorbei über die gewölbte Grabenbrücke gingen und den herrlichen Fürstenbau, von dessen Turme soeben das Amsterdamer Glockenspiel herabtönte, dicht vor sich hatten, da schwand ihre stolze Zuversicht schnell dahin. Zwar hatte jeder der Männer schon mehrmals dem Landgrafen in Katzenbach gegenübergestanden und mit ihm ge sprochen, aber das hier war doch so ganz anders. Unschlüssig blieben sie stehen. Melas hatte unterdessen ein Koppel zottiger Wolfshunde entdeckt und suchte freundschaftliche Beziehungen mit ihnen anzuknüpfen. Es war ihm etwas Neues, so viele seiner Art versammelt zu sehen, denn daheim in Engelbach war er der einzige Vertreter seines Stammes, da die Hundehaltung durch die Regierung streng verboten und nur in Ausnahmefällen den Wildhütern, Schäfern und Einzel-wohnenden gestattet war. Allein, er fand keine Gegenliebe. Mit bewundernswerter Einmütigkeit fuhr die Rotte auf den Fremdling zu, und ehe sich der Schäferhund dessen versah, lag er auf dem Rücken und die wüsten Gesellen um ihn her. Ein wildes Raufen begann und Jost Mankel wurde bange um das Leben seines Lieblings. Vergessend, wo er sich befand, sprang er mit kernigem Fluch hinzu, um mit seiner Dornkrükke den Frieden wieder herzustellen. Ihm nach rannten der Schult-heiß und Schmeckpfeffer, die sich vergebens bemühten, den Schäfer am Kittel zurückzureißen, doch der Unglücksmensch achtete nicht auf ihre Bitten. Die Torwache besah sich den Spektakel mit vergnügtem Schmunzeln, ohne einzugreifen, denn für diesen Fall hatte sie keine Spezial-instruktion. Wer weiß, was noch daraus geworden wäre, ohne die Dazwischenkunft einiger Hundewärter, die nun mit geübten Händen eingriffen, und die Kämpfenden zu trennen sich bemühten. Es war ein wildes Durcheinander. Da scholl eine scharfe, befehlende Stimme zum Kampfplatz herüber. Wie durch einen Zauberspruch gebannt, entwirrte sich sofort das Hundeknäuel, erschrocken wandten sich die Blicke der Männer dem Balkonfenster zu, wo die Gestalt Ludwigs VIII. erschienen war, der die Szene schon eine Weile beobachtet hatte. „Daß euch der Hirsch stoße, ihr Hinterländer Langkittel", rief er, „reitet euch der Böse, daß ihr hergelaufen kommt, um mir eine Kirmeskeilerei vorzuführen? So ihr Begehren an mich habt, tretet nähher und seid friedlich, vor allen Dingen aber laßt meine braven Hunde in Ruhe!" Darauf ordneten sich die Engelbacher wiederum im Dreiecksverband und stiegen, voran Henche Aßmann, der deen Aarsack auf den Armen trug, die breite Freitreppe mit Gepolter empor ins Staatszimmer des regierenden Herrn. „Guten Morgen, Herr Schultheiß von Engelbach, was steht zu befehlen? Schön, daß ihr mich einmal besucht, Leute", empfing der Landgraf mit gutmütigem Spott das Trio. „Nun, so redet doch und erzählt mir, was ihr auf dem Herzen und im Sacke traget!" Henche Aßmann hatte den Faden seiner so kunstvoll gesponnenen Ansprache verloren. „Hochfürstlicher Herr Landgraf !" bemühte er sich, einen Anfang zu gewinnen, „insonderheit, was unsere, der Gemeinde Engelbach, untertänigste Schafzucht anbetrifft, so wird sie vom Aarnest aus böslich verstöret, und so haben wir ihn mitgebracht. . .„ — „Wer und wo ist er, den ihr mitgebracht habt?" erkundigte sich interessiert der Landgraf. Worauf der Schäfer Mankel entschlossen vor-trat, den groben Sack am unteren Ende faßte und dessen Inhalt mit gewichtigem Plumps auf den Teppich zu Füßen des erstaunten Fürsten schüttelte. Landgraf Ludwig betrachtete erfreut und mit Kennerblicken das seltene Wild und Geheimrat Schulz wurde eiligst herbefohlen, um das Geschenk der Gemeinde Engelbach ebenfalls gebührend zu bewundern, deren Vertreter sich dadurch nicht wenig geschmeichelt fühlten. Ludwig VIII. verstand die große Kunst mit Leuten aus dem Volke umzugehen. So wurden die drei bald warm und gaben mit drastischer Anschaulichkeit ein Bild der Vorgänge, die sich in den letzten Tagen daheim zugetragen. „Ihr müßt ja einen wackeren Hund haben?" klopfte er dem Schäfer auf die Schulter. „Das will ich meinen, Herr Landgraf", antwortete der, „kein zweiter steht im ganzen Amt Biedenkopf." „Also den Aar wollt ihr mir schenken?" fragte der Landgraf nochmals. „Insonderheit ja", beeilte sich der Schultheiß zu versichern. Mankel und Schmeckpfeffer gaben durch zustimmendes Brummen und nachdrückliches Kopfnicken ihre Zustimmung. „Wollt ihr nun das Maß eurer Güte vollmachen" — Ludwig warf seinem Vertrauten einen bedeutsamen Blick zu — „und mir auch noch das ‚Aarnest,‘ dazu schenken, ihr Leute?" Die sahen sich untereinander an. Beinahe hätten sie gelacht. Sollte man im Darmstädter Schloß so arm sein, daß es auf eine Last Brennholz ankam? Oder wollte der Landgraf seinen Scherz mit ihnen treiben? „Na", sagte Henche Aßmann großmütig, „wenn‘s daran gefehlt ist, soll‘s uns auch auf das Aarnest nicht ankommen, insonderheit, ja!" „Ihr habt‘s gehört, Herr Kommissarius, notiert nun und setzet die Urkunde auf mit Brief und Siegel, daß am heutigen Tage die Gemeinde Engelbach mir durch ihre Abgesandten ihren Gemeinde-wald, das Aarnest, zum Geschenke angetragen, daß ich, der Land-graf, solches in Gnaden entgegengenommen!" —Und sich zu den maßlos verblüfften Bauersleuten wendend, fuhr er fort: „Doch soll euch nicht nur der gebotene Kaufpreis immer noch werden, sondern obendrein ein gleichwertiges Stück Wald von meinem Eigentum im Forste Biedenkopf. Und hiermit will ich das letzte Wort in unserem Handel gesprochen haben. Insonderheit, Herr Schultheiß, hat er‘s verstanden?" Ehe der Bestürzte noch etwas äußern konnte, war der Landgraf durch eine Seitentür verschwunden und die Engelbacher Gesellschaft entlassen. Die vom Schultheißen befürchtete Revolution in Engelbach kam nicht zum Ausbruch. Im Gegenteil, jeder verständige Mann war über die Lösung der Aarnestfrage in einer für das Dorf so vorteilhaften Weise erfreut. Als Henche Aßmann das merkte, versäumte er nicht, bei jeder Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie die Engelbacher das alles eigentlich nur ihm allein zu verdanken hätten. So brachte er den Schäferhund Melas schändlicherweise um seinen Ruhm. Einige Wochen nach diesen Geschehnissen waren im Amtshause zu Biedenkopf Ambrosius Stumpfius und ein Sekretär mit der diesseitigen Regelung des Tauschvertrages beschäftigt. Hierbei gestattete sich Trutwin die submisseste Privatbemerkung, daß seiner unmaßgeblichen Ansicht nach, Serennissimus nicht besonders günstig bei dem Handel abgeschnitten hätte. Der Amtmann nahm seinen Untergebenen den reglementswidrigen Seitensprung gegen seine Gewohnheit nicht übel, gönnte er doch selbst den Engelbachern das gute Geschäft nicht, zumal es ohne seine obrigkeitliche Mitwirkung abgeschlossen worden war. Infolge seiner langjährigen Praxis aber gewohnt, seine Aussprüche auf Zeugenaussagen zu stützen, zitierte er sofort den Geist des alten Ovid und skandierte: „Munera, crede mihi, capiunt hominesque deosque, placatur donis Jupiter ipse datis. — Ja, ja kenn‘ sich einer mit den Bauern aus!" Aber diesmal tat er ihnen entschieden unrecht.